Zum Anfang
Eine verspielte Gesellschaft? 

Linus Weidner

Montag, 18.05.2020

 

Die Publikation Arbeit 2050: Drei Szenarien, die im Rahmen des sogenannten Millenium Projekts entstand, wirft die Frage auf, wie unsere Gesellschaft, insbesondere in Bezug auf die Arbeit, im Jahr 2050 aussehen könnte (Daheim & Wintermann, 2019). Die Autoren zeichnen dazu drei Szenarien, die unterschiedlich optimistisch ausfallen. In Anlehnung an die Publikation möchte ich in diesem Beitrag einen Ausblick liefern, welchen Stellenwert das Spiel in einer Gesellschaft der Zukunft haben könnte und damit vornehmlich den kulturellen Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung in den Blick nehmen. An dieser Stelle sei auch auf die Publikation Playful Business des Zukunftsinstituts verwiesen, in der das Spiel primär aus unternehmerischer Sicht betrachtet wird (Kondert et al., 2017). Zunächst werde ich den aktuellen gesellschaftlichen Stellenwert des Spiels einordnen und einen kurzen Überblick über die unterschiedlichen Märkte geben.

 

Wenn man Kinder hat (oder kennt) weiß man, dass diese ständig auf der Suche nach neuen Spielgelegenheiten sind. Auch aus Sicht der Sozialpsychologie geht man davon aus, dass Spielen der Entwicklung einer gefestigten Persönlichkeit dient. Spielen ist seit jeher ein elementarer Bestandteil der Sozialisation und des Lernens, wie es schon George Herbert Mead (1990 [1955]) mit den Begriffen Play und Game umschrieben hat. Kinder orientieren sich zunächst an anderen Personen und erlangen im Rahmen des Play durch Rollenübernahme ihre Identität. Sie ahmen dabei Verhaltensweisen eines signifikanten Anderen (direkte Bezugsperson) nach. Später kann das Individuum auch die Perspektive von Gruppen, der sogenannten generalisierten Anderen einnehmen. Dies geschieht im Rahmen des Game. Dafür muss sich das Kind sowohl in die einzelnen Personen der Gruppe hineinversetzen können, als auch das Gruppenziel im Auge behalten (z.B. beim Fußball). Play und Game bauen also aufeinander auf. Der Lernprozess ist abgeschlossen, wenn das Individuum die Perspektive von Institutionen, wie Staaten oder Unternehmen einnehmen kann. In Bezug auf Kinder und Jugendliche ist das Spielen somit etwas völlig Natürliches und stellt damit ein gemeinhin akzeptiertes Verhalten da. In diesem Kontext ist auch die anhaltende Diskussion rund um frühkindliche Bildung spannend. Im einem Extrem (wie z.B. in einigen asiatischen Ländern) wird gefordert, die Kinder möglichst früh auf die Anforderungen des Berufslebens vorzubereiten, indem viel „hartes“ Wissen vermittelt wird. Andere fordern im Gegenzug Kinder Kinder sein zu lassen und ihnen ausreichend Raum für eigene Erfahrungen und das Spielen zu lassen. Natürlich sind die wenigsten Menschen glühende Vertreter des einen oder anderen Extrems. Bei solch einem Einstellungskontinuum fällt es ja auch schwer, die eigene Position exakt zu bestimmen. Ähnlich dürfte es vielen Lesern am Ende dieses Artikels ergehen, wenn sie sich die Einstellungsfrage mit Blick auf eine verspielte Gesellschaft stellen.

 

Das Bedürfnis zu spielen haben nicht nur Kinder, sondern auch seitens der Erwachsenen gibt es das Verlangen, durch Spiel dem Alltag zu entfliehen, um im kleinen Maßstab Erfolgserlebnisse zu haben, einen strategisch/taktischen Wettstreit auszutragen, gemeinsam oder in der Gruppe einen netten Abend zu verbringen, oder aber, sich einfach mal von den diversen Anforderungen des modernen Lebens loszusagen. Ausleben lässt sich das Bedürfnis auf vielfältige Art und Weise. Man kann sich in einem Sportverein austoben, mit Gesellschaftsspielen an den Küchentisch setzen, alleine oder mit Freunden virtuelle Welten erkunden, sein Glück beim Lotto oder im Kasino herausfordern oder einfach ein Spiel auf dem Smartphone starten, während man auf den Zug wartet. In ihrer Ausgestaltung unterscheiden sich die unterschiedlichen Spielformen dabei natürlich erheblich. Gleiches gilt für die gesellschaftliche Akzeptanz. Während die Mitgliedschaft im örtlichen Fußballverein vielleicht eher als gesundheitsfördernd und sozial wahrgenommen wird, kann der regelmäßige Besuch im Kasino mit Vorurteilen verbunden sein. Dennoch sind alle diese Spielformen – zumindest ein Stück weit – zweckfrei. Denn gespielt wird (vom pathologischen Spiel einmal abgesehen) nicht aus Zwang, sondern aus Spaß, so dass sich im Laufe der menschlichen Entwicklung ein Markt herausgebildet hat, der für fast jeden ‚Spielbedürftigen‘ ein spezifisches Angebot bietet. Bezogen auf den Glücksspielmarkt in Deutschland wird dieses Bedürfnis im Glücksspielstaatsvertrag der Länder auch als natürlicher Spieltrieb bezeichnet. Aufbauend auf diesem Verständnis legt der Staat darin Ziele und Maßnahmen fest, um das Bedürfnis in regulierte Bahnen zu lenken. Ich (als nicht-Jurist) empfinde sowohl die Formulierung, als auch die Herausstellung dieser Aussage als Kernelement der Legitimierung als ziemlich konstruiert. Dennoch zeigt sie, dass auch der Staat die elementare Bedeutung des Spielens erkannt hat. Dies zeigt sich außerdem in der staatlichen Förderung von Museen für Brett- und Videospiele (Vgl. https://www.deutsches-spielemuseum.eu/index.php/dasmuseum bzw. https://www.computerspielemuseum.de/). Aus wissenschaftlicher Perspektive wurde das Spiel schon vor langer Zeit als wichtiges Kulturgut definiert (Huizinga, 1949). Huizinga bezeichnet den spielenden Menschen auch als homo ludens, der zum Beispiel mit dem homo faber oder dem bekannteren homo oeconomicus verglichen werden kann. Jedoch sei an dieser Stelle angemerkt, dass in der Literatur unzählige Definitionen des Kulturbegriffs existieren. Man kann beispielsweise zwischen einem enger und einem weiter gefassten Verständnis von Kultur differenzieren (Vogt, 2005) oder zwischen Hoch- und Popkultur (Hepp, 2010). Das Spiel ist als Kulturgut meist nur in den weiter gefassten Begriffsdefinitionen enthalten. In der medialen Debatte treten dabei von Zeit zu Zeit immer wieder einzelne Aspekte besonders in den Vordergrund. Vor einigen Jahren waren es beispielsweise die sogenannten Ballerspiele, während es jetzt die Lootboxen oder der Sexismus in Videospielen sind.

 

Betrachtet man die Märkte für Spiele einmal separat, so sieht man, dass Nachfrage und Angebot im Bereich der Brett- und Gesellschaftsspiele stetig steigen (Vgl. https://www.grandviewresearch.com/industry-analysis/playing-cards-board-games-market). Dazu trägt auch die weltgrößte Messe rund um das Thema, die alljährlich in Essen stattfindende Spiel ihren Teil bei. Von Familien über begeisterte Spielenerds (im besten Sinne des Wortes) bis hin zu professionellen Board Game Designern und Youtubern zieht die Messe jedes Jahr hunderttausende Menschen in ihren Bann. Ein ähnlich stetiges Marktwachstum ist auch in der Videospiel-Branche zu beobachten (Vgl. https://www.forbes.com/sites/ilkerkoksal/2019/11/08/video-gaming-industry--its-revenue-shift/#4af0047a663e). Auch hier befindet sich eine der größten Messen rund um das Thema Videospiele – die Gamescom – in Deutschland. Der Glücksspielmarkt in Deutschland bleibt hingegen seit Jahren auf einem gleichbleibenden Niveau (Banz, 2019). Dies gilt auch für die Mitgliederzahlen der deutschen Sportvereine (Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1069134/umfrage/mitgliederentwicklung-sportverbaende-in-deutschland/). Man kann also vermuten, dass sowohl der Gesellschaftsspiel-, als auch der Videospielmarkt nicht direkt mit den Glücksspielanbietern und Sportvereinen um Marktanteile konkurrieren, da alle jeweils eine andere Facette des Spieltriebs abdecken. Innerhalb eines solchen Bereiches gibt es jedoch, je nach konkretem Vergleichsmaßstab, mal mehr und mal weniger direkten Wettbewerb um Marktanteile, wie Marionneau und Nikkinen (2018) für die Glücksspielbranche insgesamt und für einzelne Sektoren darin gezeigt haben. Auch wenn sowohl der Markt für Gesellschafts-, als auch der für Videospiele stetig wachsen, gibt es eine natürliche Konkurrenz der beiden Modelle, was klar wird, wenn man sich Spiele mit App-Integration oder virtuelle Sammelkartenspiele ansieht. Diese bewegen sich zwischen beiden Welten und stellen damit möglicherweise einen Wachstumsmarkt der Zukunft dar. Eine ähnliche Schnittstelle haben findige Anbieter vor einigen Jahren geschaffen, indem sie Glücksspielelemente in Form von Lootboxen in herkömmliche Videospiele integrierten. Ob und wie lange diese Praxis noch Bestand haben wird, ist eine Frage der rechtlichen Regulierung. Die negativen Folgen des Lootbox-Dilemmas sind jedoch mittlerweile bekannt (Rester, 2019; Zendle & Cairns, 2019). Das Phänomen der Lootboxen zeigt, wie Anbieter es schaffen, den natürlichen Spieltrieb immer wieder neu in eine monetarisierbare Richtung zu lenken. Mit etwas Ironie könnte man argumentieren, dass die Videospiel-Branche die Bedürfnisse des ‚homo lootens‘ geweckt hat. Wie ist es aber nun zu erklären, dass die Nachfrage nach Gesellschafts- und Videospielen stetig steigt? Haben die Menschen mehr Freizeit als früher, sind die Spiele erschwinglicher geworden, hat die Industrie mit ihren Marketingstrategien neue Bedürfnisse geweckt, oder ist es nur ein vorrübergehender Hype – ähnlich wie der Pokerboom vor etwa 10 Jahren? All dies sind mögliche Erklärungen, die aus meiner Sicht höchstens einen Teil des Phänomens erklären können. Früher war organisiertes Spiel auch ein Distinktionsmittel der Oberschicht, denn nur diese Personengruppe verfügte über hinreichend Freizeit. Heutzutage ist Freizeit ein Massenphänomen, so dass es für das Spiel als Unterhaltungsmedium einen größeren Markt gibt und sich eine stärkere Spezialisierung seitens der Anbieter lohnt. Dieser Prozess hat möglicherweise eine selbstverstärkende Dynamik. Man könnte argumentieren, dass eine diversere Angebotsstruktur dazu führt, dass der natürliche Spieltrieb besser bedient/ausgenutzt wird. Wie wir allerdings gesehen haben, ist das Angebot bereits derart groß, dass mehr Diversität vermutlich auch zu mehr Unentschlossenheit bei den Konsumenten führt.

Ich denke, eine bedeutendere Ursache für die steigende Nachfrage ist in der zunehmenden sozialen Kontrolle unseres Alltagslebens zu sehen. Es gibt im Alltag des modernen Menschen zunehmend weniger Gelegenheiten, den Emotionen freien Lauf zu lassen und kurzfristig Erfolgserlebnisse zu sammeln. Darüber hinaus fehlt die empfundene Selbstwirksamkeit in vielen Bereichen. Beide Faktoren ebnen einer verspielten Gesellschaft den Weg. Auf mögliche Gründe und Konsequenzen will ich im Folgenden eingehen, wobei ich zunächst das Argument der fehlenden Selbstwirksamkeit beleuchten möchte. Moderne Jobs basieren immer häufiger auf mentaler, abstrakter Arbeit und sind eingebunden in arbeitsteilige Prozesse, bei denen der Einzelne das Ergebnis seiner Arbeit (Input) nicht mehr direkt auf das Produkt bzw. die Dienstleitung (Output) beziehen kann. Spiele leisten genau das, sie geben das Gefühl, einen bedeutsamen Einfluss auf das Ergebnis zu haben – sei es nun auf dem Fußballplatz oder wenn ein mächtiger Krieger durch virtuelle Welten geleitet wird. Gerade bei Videospielen kann das Erleben von Flow und die Immersion, also das völlige Aufgehen in einer Tätigkeit/Geschichte, dazu erheblich beitragen. Hier spielen auch die technischen Möglichkeiten, die in den letzten Jahren dazu gekommen sind (Dolby-Surround, Virtual-Reality, UHD, Ray-Tracing etc.), eine große Rolle. Selbst bei reinen Glücksspielen kann man beobachten, dass Spieler häufiger einer Kontrollillusion unterliegen (Dixon, 2000; Goodie, 2005), also das Gefühl haben, dass sich ihr Handeln direkt auf das Ergebnis auswirkt. Dazu sei noch angemerkt, dass der Spieler beim Glücksspiel – im Gegensatz zu reinen Strategiespielen wie z.B. Schach oder Go – eine Niederlage auf Eigenschaften des Spiels schieben kann. So können Erfolgserlebnisse internalisiert und Misserfolge externalisiert werden.

Die Sinnentleerung vieler Arbeitsbereiche wird durch den technischen Fortschritt – Stichwort künstliche Intelligenz und Robotik – zudem weiter vorangetrieben. Wenn es letztlich nur noch eine kostenrechnerische Frage ist, ob die Arbeit noch von einem Menschen verrichtet wird, bleibt die empfundene Selbstwirksamkeit schnell auf der Strecke. Auch der Diskurs um das bedingungslose Grundeinkommen dreht sich vielfach um die Frage, was die Menschen mit ihrer freien Zeit machen, wenn Arbeit nicht mehr essentiell ist und damit ihre sinnstiftende Funktion verliert. Dass die Ausgestaltung der Arbeit einen Einfluss auf die Motivation hat, ist lange bekannt. In den letzten Jahren fand dabei das Konzept der Gamification zunehmend Einzug in die Debatte. Die Idee besteht darin, spielerische Elemente auf Bereiche anzuwenden, in denen sie eigentlich nicht vorkommen, um die Motivation anzufachen. Dadurch kann es zum Beispiel bei Fabrikarbeitern oder in Bürojobs zu einer Steigerung der Produktivität kommen. Sogar im Gesundheitssystem gibt es mittlerweile Bestrebungen, via Gamification den Anreiz zur Gesundheitsvorsorge zu steigern (Sardi et al., 2017) und auch im Bildungswesen gibt es diverse Apps, die mit dem Versprechen des spielerischen Lernens werben. Bereits vor Zeiten von PC und Smartphone gab es die Montessori-Schulen, deren Konzept ganz wesentlich auf dem spielerischen Erfahrungslernen aufbaut. Im klassischen Arbeitskontext soll das Spiel allerdings häufig dazu genutzt werden, unbefriedigende Tätigkeiten aufzuwerten. Damit substituiert das spielerische Element den Sinn und die mit ihm verbundene Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Auch Kondert et al. (2017) sehen Gamification in der jetzigen Form kritisch und fordern stattdessen eine Playful Gamification, die Elemente des Play und Game miteinander vereint. Auch ich möchte an dieser Stelle auf ein Zitat verweisen, dass die Problematik der Integration von Spiel und Arbeit treffend auf den Punkt bringt. As long as we work for the sake of play, or play for the sake of work, as long as we instrumentalise one for the other, rather than cherish each for the excellence we find in it, we are living the false life (Deterding, 2014, S. 326).

 

Mein zweites Argument besteht darin, dass unser Alltag durch zunehmende soziale Kontrolle bestimmt ist. In den meisten Alltagssituationen, sei es bei der Arbeit, dem Arztbesuch oder beim Einkaufen, ist man sozialen Zwängen ausgesetzt. Immer wenn man sich unter Menschen befindet, gibt es wechselseitige Erwartungshaltungen darüber, welches Verhalten in der jeweiligen Situation als angemessen gilt. Diese Erwartungshaltungen zu erfüllen kostet die Menschen auf Dauer psychische Ressourcen. Wie groß das persönliche Reservoir dieser Ressourcen ist bzw. wie gut der Zugriff auf die Ressourcen gelingt – Stichwort psychische Erkrankungen – ist individuell verschieden. In jedem Falle braucht es einen Ausgleich, sowohl in Form von Ruhe, als auch durch emotionale Erlebnisse. Dieser Prozess kann daher im Rahmen der Salutogenese als gesundheitserhaltend bezeichnet werden (Kraft et al., 1994). Goffman (1969) hat mit seinem Konzept der Action beschrieben, dass Menschen Räume suchen, in denen sie sich emotional ausleben können und schon damals wurde davon gesprochen, dass solche Gelegenheiten zunehmenden Seltenheitswert besitzen. Man kann davon ausgehen, dass sich diese Entwicklung in westlichen Kulturen fortsetzt. Eine Säule des modernen Kapitalismus ist schließlich die Bürokratisierung und Reglementierung (Weber, 2013 [1919-1920]) und damit einhergehend die Anpassung der Menschen an Normen, Regeln und Pflichten. Ich denke Spiele sind, wie kaum ein anderes Medium, mit Emotionen verknüpft und ermöglichen so eine mentale Flucht aus dem Alltag. Ein Paradebeispiel ist das Lottospiel, bei dem Menschen sich gezielt ein Gefühl von Hoffnung erkaufen können (Lutter 2010). Jeder der sich auf ein Spiel einlässt, erwartet von vornherein einen Stimulus, der im besten Fall positiv ist. Natürlich können solche Räume der Action nicht nur durch das Spiel geschaffen werden. Sport (der in diesem Artikel ebenfalls als Spiel aufgefasst wird) kann ebenfalls diese Funktion erfüllen, genauso wie der Konsum von Drogen, Sex oder Umgebungen, in denen man sich ‚gehen lassen‘ darf, man denke zum Beispiel an Freizeitparks. Voraussetzung dafür ist aber auch ein Zugang zu den eigenen emotionalen Bedürfnissen. Dass viele Menschen heutzutage Schwierigkeiten haben, diesen herzustellen, zeigt sich an der hohen Nachfrage nach Selbsthilfebüchern, Psychotherapie, Coaching und dem steigenden Interesse an Themen wie Meditation, Yoga und Mindfulness. Natürlich hat nicht jeder Mensch das gleiche Bedürfnis nach emotionaler Erregung. Das individuell optimale Stimulationsniveau lässt sich zum Beispiel über die Persönlichkeitseigenschaft Sensation Seeking messen. Dieses Maß weist zwischen unterschiedlichen Individuen teils starke Variationen auf (Roth & Hammelstein, 2003). Ich bezweifle daher, dass irgendwann alle nur noch nach dem nächsten emotionalen Stimulus suchen werden, unabhängig davon wie viel Freizeit wir durch den technischen Fortschritt auch bekommen mögen. Basierend auf meiner Argumentation vermute ich aber, dass die Nachfrage nach Spielen eher weiter steigen dürfte. In der Studie Arbeit 2050: Drei Szenarien schreiben die Autoren: Noch nie zuvor haben sich Filme, Online-Spiele, TV-Sendungen, UNO-Gipfel, VR-Nachrichten, Online Flash-Mob Teach-ins so sehr mit dem Sinn des Lebens und den möglichen Zukünften auseinander gesetzt (Daheim & Wintermann, 2019, S. 14).

 

Hier lässt sich die Wechselseitigkeit zwischen Spielen (und anderen Kulturgütern) und den wichtigen gesellschaftlichen Fragen der jeweiligen historischen Epoche erkennen. Selten zuvor war unsere Zukunft so ungewiss wie heute. Der Film von Steven Spielberg Ready Player One führt den Gedanken einer verspielten Gesellschaft ins Extrem, indem er eine dystopische Welt zeichnet, in der die Menschen in ein virtuelles Spiel (die OASIS) flüchten. Während der Erstellung dieses Textes habe ich mich im Freundes- und Bekanntenkreis erkundigt, wie andere Personen die Zukunft des Spiels einschätzen. Auch dort kamen sogenannte Lifestyle-Spiele zur Sprache, die einen immer größeren Anteil im Leben der Spieler einnehmen.

 

…Vor allem das einzelne, konkrete Spiel. Die Frage ist heute ja nicht
mehr so sehr "Welches Genre Computer-/Videospiel spielst du?", sondern
mehr und mehr "Welches Spiel spielst du?". Service-Games à la 'The
Division', competitive games à la League of Legends und Overwatch oder Spiele, die
fast schon Generationsphänomene sind und Community Charakter haben wie
Fortnite, nehmen so viel Raum und Zeit im Leben der Spieler ein, dass
diese kaum noch etwas anderes spielen…

 

Selbstredend ist eine verspielte Gesellschaft nur ein Gedankenexperiment. In der Realität wird das Spiel niemals alle anderen Lebensbereiche verdrängen, wie im Spielberg-Film.

Dennoch stellt sich die Frage, welchen Stellwert wir dem Spiel beimessen wollen. Auf der einen Seite will natürlich niemand eine Gesellschaft, in der niemand mehr das Gefühl hat, gebraucht zu werden. Auf der anderen Seite kann eine Maximierung des Bruttonationalspaßes kaum negativ zu bewerten sein. Je zufriedener die Menschen sind, desto weniger Anlass gibt es schließlich für jegliche Art von deviantem Verhalten (Kriminalität, Selbstmord, Drogenmissbrauch, etc.), und auch sonst lässt sich dem Gedanken einiges abgewinnen. Gerade aktuell in Zeiten der Corona-Krise und der häuslichen Isolation hat das Wohlbefinden des Einzelnen einen hohen Stellenwert. In einer verspielten Gesellschaft stiegen statistisch betrachtet aber auch die negativen Folgen, die mit unterschiedlichen Spielen verbunden sind, an. Spielsucht existiert schließlich nicht nur im Bereich des pathologischen oder problematischen Glücksspiels, sondern auch Videospiel- Internet- oder Handysucht sind mittlerweile verbreitet. Wenn man Besucher auf der Spiel beobachtet, liegt der Schluss nicht fern, dass einige Personen der Kaufsucht verfallen sind. Aus meiner Sicht überwiegt gesamtgesellschaftlich jedoch der Nutzen, den das Spiel in einer Welt, in der es eine zunehmend einzigartige Funktion erfüllt, bietet. Der Beitrag ist also ein Plädoyer für eine moderat verspielte Gesellschaft. Abschließend möchte ich allerdings darauf hinweisen, dass dieser Beitrag das Spiel im Allgemeinen in den Blick nimmt. Gerade das Glücksspiel birgt ein immanentes Gefährdungspotential. Daher ist eine systematische Gegenüberstellung des gesellschaftlichen Nutzens und der möglichen Gefahren unabdingbar und kontinuierliche Aufklärung und Prävention notwendig. Gleichsam gilt es, die nicht intendierten Folgen absichtsvollen Handelns, die mit Verboten oder Restriktionen einhergehen können, zu minimieren.

 

Literatur:

 

Banz, M. (2019). Glücksspielverhalten und Glücksspielsucht in Deutschland. Ergebnisse des Surveys 2019 und Trends. [BZgA-Forschungsbericht]. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. 10.17623/BZGA:225-GS-SY19-1.0

 

Daheim, C., & Wintermann, O. (2019). Arbeit 2050: Drei Szenarien. Neue Ergebnisse einer internationalen Delphi-Studie des Millennium Project. Bertelsmann-Stiftung.

 

Deterding, S. (2014). Eudaimonic Design, or: Six Invitations to Rethink Gamification. In M. Fuchs, S. Fizek, P. Ruffino, & Niklas Schrape (Hrsg.), Rethinking Gamification (S. 305–331). meson.press.

 

Dixon, M. R. (2000). Manipulating the Illusion of Control: Variations in Gambling as a Function of Perceived Control Over Chance Outcomes. The Psychological Record, 50(4), 705–719. https://doi.org/10.1007/BF03395379

 

Goffman, E. (1969). Where the Action is: Three Essays. Allen Lane.

 

Goodie, A. S. (2005). The Role of Perceived Control and Overconfidence in Pathological Gambling. Journal of Gambling Studies, 21(4), 481–502. https://doi.org/10.1007/s10899-005-5559-1

 

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Huizinga, J. (1949). Homo ludens: Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur; Homo ludens dt. (3. Aufl.). Akad. Verl.-Anst. Pantheon.

 

Kondert, F., Naughton, C., Papasabbas, P., Reinartz, C. S., Seemann, S., & Seitz, J. (2017). Playful Business. Zukunftsinstitut.

 

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Marionneau, V., & Nikkinen, J. (2018). Market Cannibalization Within and Between Gambling Industries: A Systematic Review. Journal of Gambling Issues, 37, 1–35. http://dx.doi.org/10.4309/jgi.2018.37.1

 

Rester, N. (2019). Insert Coin: Pay-to-win and the loot box dilemma. Gaming Law Review, 23(4), 221–228. https://doi.org/10.1089/glr2.2019.2346

 

Roth, M., & Hammelstein, P. (Hrsg.). (2003). Sensation seeking: Konzeption, Diagnostik und Anwendung. Hogrefe.

 

Sardi, L., Idri, A., & Fernández-Alemán, J. L. (2017). A systematic review of gamification in e-Health. Journal of Biomedical Informatics, 71, 31–48. https://doi.org/10.1016/j.jbi.2017.05.011

 

Vogt, L. (2005). Culture and Civilization. In G. Ritzer (Hrsg.), Encyclopedia of Social Theory. (S. 181–182). Sage.

 

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Wenzel, H. (1990). George Herbert Mead zur Einführung. Junius.

 

Zendle, D., & Cairns, P. (2019). Video game loot boxes are linked to problem gambling: Results of a large-scale survey. PLOS ONE, 14(3), e0214167. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0214167